Umgangsrecht für leiblichen Vater
Allgemein zum Thema
VATER und sein RECHT aufs KIND
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) vom
15.09.2011 - ECHR 144 (2011)
Entscheidung der deutschen Gerichte über Umgangsrecht eines Vaters mit seinem mutmaßlichen Sohn hätte Kindeswohlinteresse berücksichtigen sollen
Pressemitteilung des Kanzler
Zusammenfassung des Sachverhalts
Der Beschwerdeführer, Michael Schneider, ist deutscher
Staatsangehöriger, 1958 geboren, und lebt in Fulda. Zwischen Mai
2002 und September 2003 hatte er eine Beziehung mit einer
verheirateten Frau, Frau H., und behauptet, der leibliche Vater
ihres 2004 geborenen Sohnes F. zu sein, dessen rechtlicher Vater
der Ehemann der Frau ist. Herr und Frau H. leben inzwischen mit F.
sowie einer älteren Tochter und einem weiteren, 2007 geborenen,
Kind im Vereinigten Königreich. Das Ehepaar vertritt die
Auffassung, dass Herr Schneider, ebenso aber Herr H., der leibliche
Vater von F. sein könnte, und zieht es im Interesse des familiären
Zusammenlebens vor, die Vaterschaft nicht feststellen zu lassen.
Während Frau H.’s Schwangerschaft begleitete Herr Schneider sie zu
mindestens zwei ärztlichen Untersuchungen und erkannte beim
Jugendamt die Vaterschaft des ungeborenen Kindes an. Nach F.’s
Geburt, im August 2004, stellte Herr Schneider beim
Amtsgericht-Familiengericht Fulda einen Antrag auf Umgang zweimal
im Monat und auf regelmäßige Auskunft über die persönlichen
Verhältnisse des Jungen. Das Gericht wies den Antrag im Oktober
2005 ab. Es befand, dass er, selbst unter der Annahme, er sei der
biologische Vater, zu keiner der Personengruppen gehöre, die nach
dem BGB umgangsberechtigt sind: er sei nicht der rechtliche Vater
des Kindes; seine Vaterschaftsanerkennung sei nicht rechtskräftig,
da Herrn H.’s Vaterschaft fortbestehe; er habe nicht das Recht,
Herrn H.’s Vaterschaft anzufechten, da zwischen letzterem und dem
Kind eine sozial-familiäre Bindung bestehe; schließlich sei Herr
Schneider keine enge Bezugsperson des Kindes, da er nie mit ihm
zusammengelebt habe. Im Berufungsverfahren bestätigte das
Oberlandesgericht Frankfurt am Main das Urteil des Amtsgerichts. Im
September 2006 nahm das Bundesverfassungsgericht die
Verfassungsbeschwerde Herrn Schneiders nicht zur Entscheidung an
(Az. 1 BvR 1337/06). Es befand, dass die Beschwerde unzulässig sei,
soweit sie sich gegen die 1 Gemäß Artikel 43 und 44 der Konvention
sind Kammerurteile nicht rechtskräftig. Innerhalb von drei Monaten
nach der Urteilsverkündung kann jede Partei die Verweisung der
Rechtssache an die Große Kammer beantragen. Liegt ein solcher
Antrag vor, berät ein Ausschuss von fünf Richtern, ob die
Rechtssache eine weitere Untersuchung verdient. Ist das der Fall,
verhandelt die Große Kammer die Rechtssache und entscheidet durch
ein endgültiges Urteil. Lehnt der Ausschuss den Antrag ab, wird das
Kammerurteil rechtskräftig. Sobald ein Urteil rechtskräftig ist,
wird es dem Ministerkomitee des Europarats übermittelt, das die
Umsetzung der Urteile überwacht. Nichtfeststellung seiner
Vaterschaft durch die Familiengerichte richtete, da er sein
Begehren auf Kenntnis der Abstammung zuvor in einer gesonderten
Anfechtungsklage hätte geltend machen müssen. Soweit seine
Beschwerde sich gegen die Zurückweisung von Umgangs- und
Auskunftsansprüchen richte, sei sie unbegründet, da das Grundgesetz
die Beziehung des leiblichen, aber nicht rechtlichen Vaters zu
seinem Kind nur schütze, wenn zwischen ihm und dem Kind eine
sozial-familiäre Bindung bestehe, die darauf beruhe, dass er
zumindest eine Zeit lang tatsächlich Verantwortung für das Kind
getragen habe. Beschwerde, Verfahren und Zusammensetzung des
Gerichtshofs Unter Berufung insbesondere auf Artikel 8 rügte Herr
Schneider die Weigerung der deutschen Gerichte, ihm Umgang mit
seinem mutmaßlichen Sohn und Recht auf Auskunft zu gewähren. Weiter
beschwerte er sich, dass die Gerichte den maßgeblichen Sachverhalt
im Hinblick auf die Beziehung zu seinem Sohn nicht ausreichend
aufgeklärt hätten, dass sie insbesondere keine Klärung der
Vaterschaft angeordnet und nicht geprüft hätten, ob sein
Umgangsrecht im Interesse des Kindeswohls läge. Unter Berufung auf
Artikel 8 in Verbindung mit Artikel 14 (Diskriminierungsverbot)
rügte er außerdem, dass er durch die Entscheidungen der deutschen
Gerichte diskriminiert worden sei. Die Beschwerde wurde am 4. April
2007 beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eingelegt.
Das Urteil wurde von einer Kammer mit sieben Richtern gefällt, die
sich wie folgtzusammensetzte:
Dean Spielmann (Luxemburg), Präsident, Karel Jungwiert
(Tschechien), Boštjan M. Zupancic (Slowenien), Mark Villiger
(Liechtenstein), Isabelle Berro-Lefèvre (Monaco), Ann Power
(Irland), Angelika Nußberger (Deutschland), Richter, und Claudia
Westerdiek, Sektionskanzlerin.
Entscheidung des Gerichtshofs
Artikel 8 EMRK
Der Gerichtshof befand, dass die Entscheidungen der deutschen
Gerichte, Herrn Schneider Umgang mit seinem mutmaßlichen Sohn F.
und Auskunft über dessen persönliche Verhältnisse zu verwehren,
einen Eingriff in seine Rechte aus Artikel 8 darstellten. Da seine
biologische Vaterschaft nicht nachgewiesen war und nie eine enge
persönliche Bindung zwischen ihm und dem Kind bestanden hatte, gab
es zwar kein bestehendes „Familienleben“. Dieser Umstand war Herrn
Schneider aber nicht anzulasten. In Anwendung der maßgeblichen
Bestimmungen des BGB hatten die deutschen Gerichte seine
Vaterschaftsanerkennung für nicht wirksam erklärt, da Herrn H.’s
Vaterschaft gelte. Eine gesonderte Anfechtungsklage gemäß § 1600
Abs. 1 Nr. 2 BGB –die Herr Schneider nach Auffassung der deutschen
Regierung hätte anstrengen können –wäre auf Grundlage des geltenden
Rechts zum Scheitern verurteilt gewesen. Überdies hätte ein solches
Verfahren darauf abgezielt, als rechtlicher Vater anerkannt zu
werden, ein weitreichenderes Ziel als die Absicht Herrn Schneiders,
seine biologische Vaterschaft für die Ausübung eines Umgangsrechts
mit dem Kind feststellen zu lassen. Auch wenn Herr Schneider und
Frau H. nicht zusammengelebt hatten, war unbestritten, dass ihre
ein Jahr und vier Monate dauernde Beziehung nicht bloß zufällig
gewesen war. Herr Schneider hatte sein Interesse an F. hinlänglich
deutlich gemacht, indem er das Kind gemeinsam mit Frau H. plante,
sie zu ärztlichen Untersuchungen begleitete und die Vaterschaft
noch vor der Geburt anerkannte. Der Gerichtshof schloss folglich
nicht aus, dass Herrn Schneiders Absicht, eine Beziehung zu dem
Kind aufzubauen, in den Geltungsbereich des „Familienlebens“gemäß
Artikel 8 fiel. Selbst wenn die Frage, ob Herr Schneider ein
Umgangs- und Auskunftsrecht beanspruchen konnte, nicht als
„Familienleben“gelten konnte, so betraf sie aber in jedem Fall
einen wichtigen Teil seiner Identität und folglich sein
„Privatleben“im Sinne von Artikel 8. Im Hinblick auf die Frage, ob
der Eingriff in Herrn Schneiders Rechte gerechtfertigt war, nahm
der Gerichtshof zur Kenntnis, dass die Entscheidungen der deutschen
Gerichte mit den maßgeblichen Bestimmungen des deutschen BGB in
Einklang standen. Weiter zielten sie darauf ab, die Interessen des
Ehepaares sowie der während der Ehe geborenen Kinder, die bei ihm
lebten, zu schützen. Die deutschen Gerichte hatten Herrn Schneider
Umgang mit seinem mutmaßlichen Sohn und Auskunft über dessen
persönliche Verhältnisse aber verwehrt, ohne zu untersuchen, ob ein
solches Umgangs- und Auskunftsrecht unter den besonderen Umständen
des Falls im Kindeswohlinteresse läge oder ob die Interessen Herrn
Schneiders als denjenigen der rechtlichen Eltern übergeordnet
angesehen werden müssten. Der Gerichtshof bezog sich auf einen
ähnlichen Fall, der die Weigerung der deutschen Gerichte betraf,
einem Vater Umgang mit seinen Kindern zu gewähren, die bei ihrer
Mutter und deren Ehemann lebten, ohne dabei zu berücksichtigen, ob
Kontakte zwischen dem Beschwerdeführer und seinen Kindern in deren
Interesse läge.2 In dem Fall war der Gerichtshof zu dem Schluss
gekommen, dass die deutschen Gerichte keine gerechte Abwägung der
konkurrierenden Interessen vorgenommen hatten. In Herrn Schneiders
Fall war zwar nicht nachgewiesen, ob er tatsächlich der biologische
Vater des fraglichen Kindes ist, dieser Unterschied war für die
Entscheidungen der Gerichte aber unerheblich. Sie waren für ihre
Erwägungen von seiner Vaterschaft ausgegangen und hatten seinen
Antrag abgelehnt, weil er nicht der rechtliche Vater des Kindes war
und keine sozial-familiäre Bindung mit ihm bestand. In beiden
Fällen waren die Gründe, warum der (mutmaßliche) biologische Vater
keine Beziehung mit dem betroffenen Kind bzw. den Kindern aufgebaut
hatte, für die Schlussfolgerungen der deutschen Gerichte
unerheblich gewesen. Folglich hatten sie dem Umstand, dass der
jeweilige Beschwerdeführer aus rechtlichen und praktischen Gründen
nicht in der Lage war, die Beziehung zu den Kindern zu
beeinflussen, keinerlei Bedeutung beigemessen. Der Gerichtshof
unterstrich, dass es Aufgabe der nationalen Gerichte ist –die mit
allen Beteiligten in direktem Kontakt stehen - festzustellen, ob
Kontakte zwischen einem biologischen Vater und seinem Kind in
dessen Interesse liegen oder nicht. Allerdings war der Gerichtshof
nicht davon überzeugt, dass das Interesse von Kindern, die bei
ihrem rechtlichen Vater leben, aber einen anderen biologischen
Vater haben, tatsächlich mit Hilfe einer allgemeinen rechtlichen
Vermutung ermittelt werden kann. In Anbetracht der großen Vielfalt
möglicherweise betroffener Familienkonstellationen erfordert die
gerechte Abwägung der Rechte aller Beteiligten eine Untersuchung
der besonderen Umstände des Falls. In Herrn Schneiders Fall hatten
die deutschen Gerichte keine solche Untersuchung vorgenommen.
Folglich lag eine Verletzung von Artikel 8 vor.
A rtikel 8 in Verbindung mit Artikel 14
Im Hinblick auf seine Schlussfolgerungen unter Artikel 8 sah es der
Gerichtshof nicht als notwendig an, darüber zu befinden, ob die
Entscheidungen der deutschen Gerichte Herrn Schneider unter Verstoß
gegen Artikel 8 in Verbindung mit Artikel 14 diskriminiert
hatten.
Anayo gegen Deutschland (Beschwerdenr. 20578/07) vom 21. Dezember
2010
Artikel 41
Gemäß Artikel 41 (gerechte Entschädigung) entschied der
Gerichtshof, dass Deutschland Herrn Schneider 5.000 Euro für den
erlittenen immateriellen Schaden und 10.000 Euro für die
entstandenen Kosten zu zahlen hat.
Das Urteil liegt nur auf Englisch vor.
Thema UMGANGSRECHT mit LEIBLICHEN VATER
Recht auf Kontakt zum Kind
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